In diesem Beitrag schauen wir uns an, warum Barrierefreiheit mehr ist als das bloße Erfüllen von Standards. Und vor allem: Wie man mit Nutzerforschung zur digitalen Barrierefreiheit (Accessibility Research) echte Mehrwerte schafft – für Menschen mit Behinderungen, für Unternehmen – und letztlich für uns alle.
Compliance ist erst der Anfang
Standards und Richtlinien wie die WCAG (Web Content Accessibility Guidelines) und die BITV (Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung) bilden das Fundament für digitale Barrierefreiheit. Sie bieten einen strukturierten Rahmen, der Entwicklern und Designern hilft, grundlegende Probleme der digitalen Barrierefreiheit zu vermeiden.
Diese Standards sind unerlässlich, da sie:
- Eine gemeinsame Sprache und Messlatte für Barrierefreiheit schaffen
- Konsistenz über verschiedene Websites und Anwendungen hinweg fördern
- Rechtliche Compliance unterstützen und das Risiko von Diskriminierungsklagen reduzieren
- Als Ausgangspunkt für die Verbesserung der Zugänglichkeit dienen.
Audits, Checklisten und Compliance oder Konformitäts-Tests, die auf diesen Standards basieren, helfen, grobe Fehler zu vermeiden (unzureichende Kontraste, fehlende Alt-Texte, nicht ansteuerbare Buttons, Formularfelder ohne Beschriftung etc.).
Sie sorgen dafür, dass ein Angebot grundsätzlich zugänglich ist – auch für Menschen, die nicht oder schlecht sehen, hören, sich bewegen können etc.

Aber nur, weil ein Angebot barrierefrei nach Vorschrift ist, bedeutet das noch lange nicht, dass es auch tatsächlich nutzbar ist oder ein gutes Nutzungserlebnis bietet. Audits und Konformitätstests prüfen Barrierefreiheit vorwiegend formal-technisch, entlang der Kriterienlisten:
- Funktioniert die Tastatursteuerung?
- Sind die Farben kontrastreich genug?
- Können Inhalte vergrößert werden?
- Sind alle Elemente per Screenreader navigierbar?
- Haben alle Bilder einen Alternativtext?
- Sind Untertitel und Audiodeskriptionen für Videos vorhanden?
Bei der Beantwortung dieser Fragen liegt der Fokus auf dem „Ob“ – auf der bloßen Erfüllung der Kriterien (Ja/Nein). Das entscheidende „Wie gut?“ – also die Qualität der Umsetzung und die tatsächliche Nutzererfahrung – bleibt dabei außen vor.
Was Audits nicht zeigen
Die Folge ist: Eine App oder Website kann formal „barrierefrei“ sein, aber in der Praxis für Menschen mit Behinderung trotzdem nur schwer nutzbar sein. Das verdeutlichen die folgenden Beispiele.
Alle Inhalte sind mit der Tastatur bedienbar, aber:
- Es tauchen Pop-Ups auf, die die Fokusreihenfolge stören
- Nutzer*innen quälen sich durch ermüdend lange Tab-Sequenzen
- Es fehlen sinnvolle und ansteuerbare Überschriften, die auch per Tastatur ein schnelles Scannen der Seite ermöglichen.
Alle Bilder haben Alternativtexte, aber:
- Die Beschreibungen sind nicht redundant oder zu lang
- Dekorative Bilder (Trenner, Icons ohne Aussagekraft) haben Alternativtexte, was zu „auditivem Clutter“ und kognitiver Überlastung führt.
Alle Elemente sind richtig benannt, aber:
- Labels sind nicht eindeutig oder selbsterklärend, sodass Screenreader-Nutzer*innen nicht wissen, welche Eingabe erwartet wird.
- Links heißen alle: „Zur Produktseite“. Das ist laut WCAG Level AA unter Umständen ok, aber für Screenreader-User nicht sonderlich hilfreich.
Die Beispiele zeigen, dass Barrierefreiheit nicht nur eine technische, sondern auch eine nutzerzentrierte Disziplin ist, die Aspekte der Usability und UX umfasst.
Ein positives Beispiel wie bessere Linktexte aussehen könnten:

Im Screenshot sieht man eine Linkliste, wie sie ein Screenreader ausgeben kann. Diese Liste zeigt, dass die Texte auf der Seite nur »Zur Produktseite« heißen, aber für den Screenreader im sogenannten Accessibility-Tree erweitert wurden.
Der Linktext ist jetzt für Screenreader-User*innen auch ohne Kontext aussagekräftig und man kann schnell herausfinden, welche Links es auf der Seite gibt und wo sie hinführen. Mehr über das Thema im Artikel von Sara Soueidan über Barrierefreiheit Text-Labels (englisch)
Werden alle Aspekte der Usability berücksichtigt?
Das wird noch deutlicher, wenn wir uns die Frage stellen: Werden unsere Angebote denn auch den spezifischen Informations-, Funktions- und Interaktionsbedürfnissen von Menschen mit Behinderungen gerecht?
Bieten wir alle relevanten Informationen an? Zum Beispiel:
- Hat das Seminarzentrum rollstuhlgerechte Toiletten?
- Sagt die Produktbeschreibung etwas darüber aus, ob eine Heißluftfritteuse nur ein digitales Display hat – oder auch Knöpfe (was die Bedienung für Blinde erleichtert)?
Stellen wir passende Funktionen bereit? Zum Beispiel:
- Kann man in einem großen Sortiment nach Kleidung für Rollstuhlfahrer*innen filtern?
- Gibt es einen komplett digitalen Retourenprozess (ohne die Notwendigkeit, ein Label auszudrucken oder aufzukleben)?

Derartige Fragen gehen weit über Standards und Konformitätstests. Sie zielen darauf ab, eine tatsächlich positive Nutzungserfahrung auch für Menschen mit spezifischen Bedürfnissen zu erzielen.
Praxisbeispiel: Ein Online-Shop und die blinde Nutzerin
Ein anschauliches Beispiel ist ein Usability-Test, den ich mit einer blinden Probandin durchgeführt habe. Sie wollte in der iOS-App eines Online-Shops Weingläser kaufen. Als Screenreader-Nutzerin navigierte sie durch die Produktseite – und stieß auf ein unerwartetes Problem:
Bevor sie zur eigentlichen Produktbeschreibung kam, las ihr Screenreader ein „Slider mit Empfehlungen“ mit einer langen Liste an Empfehlungen für ähnliche Produkte vor, durch die sie sich geduldig – aber zunehmend frustriert – durchwischte. Ohne visuelle Orientierung wusste sie nicht, dass die Beschreibung noch folgen würde.
Die Konsequenz? Sie hätte den Kaufvorgang abgebrochen.
Und das war nicht die einzige Stolperfalle …
- Sämtliche Produktbilder waren mit immer dem gleichen Alternativtext hinterlegt (unglücklicherweise die Produktbezeichnung), so dass die Probandin sich zehnmal denselben Text anhören musste, ohne einen Informationsgewinn zu haben.
- Filter waren zwar mit dem Screenreader erreichbar, aber unklar beschriftet. Oder es fehlten Filteroptionen, die für die blinde Probandin wichtig gewesen wären (z.B. die Länge des Stiels des Weinglases, da sie auf der Suche nach möglichst robusten Weingläsern ohne oder nur mit kurzem Stiel war).
- Kundenbewertungen wurden auf einer Sternchen-Skala präsentiert, wobei alle Sternchen den Alternativtext „Stern“ hatten (ohne Kontext „4 von 5 Sternen“). Die Probandin konnte also nicht erkennen, ob die Bewertungen positiv oder negativ waren.
- Auch die Anzahl der Bewertungen wurde ohne Kontext vorgelesen („15“ statt „15 Bewertungen“), was die Probandin kurzzeitig glauben ließ, es handele sich um ein Set mit 15 Weingläsern.
- Der „Jetzt kaufen“-Button wurde bereits vom Screenreader angesagt, noch bevor die Probandin eine erste Beschreibung des Produkts erhalten hatte. Sie wurde also direkt mit der Kaufoption konfrontiert, ohne die Möglichkeit zu haben, sich vorher ausreichend zu informieren.

Kein automatischer Test hatte diese gravierenden Usability-Probleme aufgedeckt. Ein WCAG-Audit hätte vielleicht geprüft, ob Produktbeschreibungen und Alternativtexte vorhanden sind – aber nicht, ob sie an der richtigen Stelle stehen und auch nicht, ob sie inhaltlich Sinn ergeben.
Diese Einblicke erhalten wir nur durch echtes Nutzerfeedback. Und genau hier machen Usability-Tests mit Menschen mit Behinderung den Unterschied.
Was ist Accessibility Research?
Accessibility Research ist ein Teilbereich der Nutzerforschung (User Research), der sich speziell mit den Bedürfnissen und Erfahrungen von Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen befasst.
Im Kern bedeutet das: Angebote für und mit Menschen mit Behinderungen entwickeln und testen. Das können Menschen mit Blindheit, Seh- oder Hörbehinderungen sein, aber auch Personen mit motorischen Einschränkungen, kognitiven Beeinträchtigungen, Legasthenie oder temporären Einschränkungen (z. B. ein gebrochener Arm).
Statt nur theoretisch zu überlegen, was funktionieren sollte, schauen wir uns an, was in der Praxis wirklich klappt – gemeinsam mit Menschen mit Behinderungen und immer getreu dem Credo: „Niemals über uns ohne uns.“
Accessibility Research ergänzt Standards und Konformitätstests durch:
- Praktische Nutzungstests mit echten Nutzern im realen Kontext
- Berücksichtigung individueller Settings, Vorlieben und Bedürfnisse
- Tieferes Verständnis für vielfältige Nutzererfahrungen
- Innovative Lösungen, die Standards übertreffen
Es geht also darum, mit Menschen mit Behinderungen zu sprechen, ihre Herausforderungen zu verstehen und so Produkte und Services zu entwickeln, die wirklich nutzbar sind und eine positive Nutzungserfahrung ermöglichen.
Mit folgenden Methoden geht das
Hier sind vier der Methoden, die ich in meinen Projekten regelmäßig nutze.
Usability-Tests und Feldstudien:

Wir sind die „Versteckte Kamera“ der Barrierefreiheit. Wir beobachten Menschen mit unterschiedlichen Einschränkungen, wie sie mit einer Website, App oder einem Produkt interagieren – in ihrem ganz normalen Alltag, mit ihren eigenen Geräten und individuellen Einstellungen. Damit entlarven wir mehr Barrieren als jedes Audit.
Interviews:

Wir tauchen tief in die Lebenswelt unserer Nutzer*innen ein. Wir sprechen mit ihnen über ihre Erfahrungen, Bedürfnisse und Herausforderungen – nicht nur bei der Nutzung digitaler Angebote, sondern im Alltag allgemein. Das liefert unschätzbare Einblicke und inspiriert zu wirklich relevanten Innovationen.
Co-Creation Sessions:

In interaktiven Workshops bringen wir Menschen mit und ohne Behinderung mit Designern, Produktmanagern und Entwicklern zusammen. Gemeinsam spinnen wir Ideen und entwickeln Lösungen. So stellen wir sicher, dass die Bedürfnisse aller Nutzer*innen, einschließlich derer mit Behinderungen, von Anfang an Berücksichtigung finden.
Online-Umfragen:
Manchmal brauchen wir viele Antworten. Online-Umfragen helfen uns, quantitative Daten von einer größeren Gruppe von Menschen mit Behinderungen zu sammeln. Zum Beispiel, um zu checken, wie zufrieden sie mit einer bestimmten Funktion sind. Aber Achtung: Auch die Umfragen selbst müssen natürlich 100 % barrierefrei sein!
Quick-Tipp: Dein 5-Minuten-Kickstart in Usability-Tests mit Menschen mit Behinderung
Du musst nicht gleich ein riesiges Forschungsprojekt starten!
Frag für den Anfang einfach eine Person aus deinem Bekanntenkreis, die eine Beeinträchtigung hat (zum Beispiel einen sehbehinderten Kollegen oder eine Freundin) und bitte sie, deine Website oder App kurz zu testen.
5 Minuten reichen, um die größten Stolpersteine aufzudecken. Notiere, was dir auffällt und wo es hakt.
Dieser Mini-Test ist Gold wert!
Er liefert dir nicht nur erste konkrete Verbesserungsvorschläge, sondern schärft auch deinen Blick für die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen.
Wichtig ist jedoch: Genau wie bei jedem anderen Usability-Test solltest du es nicht bei einer einzigen Testperson belassen. Und für Accessibility-Tests gilt: Je mehr Perspektiven, desto besser! Denn die individuellen Bedürfnisse und Settings im Bereich Barrierefreiheit sind super vielfältig.
Der wahre Mehrwert von Usability-Tests mit Menschen mit Behinderung
Neben der Verbesserung von Produkten und Services hat Accessibility Research eine tiefere Wirkung: Es verändert die Denkweise in deinem Unternehmen.
Sobald Teams direkt erleben, wie Menschen mit Behinderungen ihre Produkte nutzen, entsteht ein neues Maß an Empathie. Entwickler*innen, Designer*innen und Produktmanager*innen verstehen plötzlich nicht nur abstrakt, dass Barrierefreiheit wichtig ist – sie fühlen es.
Diese Erkenntnisse haben oft eine nachhaltige Wirkung:
- Stärkeres Bewusstsein für Accessibility bei Entscheidungsträgern: Wenn Führungskräfte sehen, welche Hürden bestehen, steigt die Bereitschaft, Barrierefreiheit strategisch anzugehen.
- Mehr Empathie in Design- und Entwicklungsteams: Teams beginnen, inklusiver zu denken, statt Barrierefreiheit als Pflichtaufgabe zu betrachten.
- Ein inklusives Mindset in der Organisation: Barrierefreiheit wird nicht mehr als Zusatzaufwand gesehen, sondern als Chance, bessere Produkte für alle zu entwickeln.

In Workshops mit meinen Kund*innen erlebe ich immer wieder diese Aha-Momente.
Sie zeigen, dass Nutzertests mit Menschen mit Behinderungen nicht nur konkrete Lücken in der Usability aufdecken. Vielmehr verändern sie nachhaltig die Perspektive auf Barrierefreiheit und führen nicht selten zu tiefgreifenden Umstrukturierungen und neuen, inklusiveren Arbeitsweisen im Unternehmen.
Ein großer Online-Reiseanbieter erkannte zum Beispiel nach unseren ersten gemeinsamen Nutzertests mit Blinden und Sehbehinderten, dass die stark fragmentierte Verantwortlichkeit für einzelne Seiten und Informationsbereiche zu einer inkonsistenten und unlogischen Nutzererfahrung führte.
Diese Erkenntnis führte zu einem Umdenken in der internen Organisationsstruktur. Das Unternehmen begann, Silos aufzubrechen und Teams neu zusammenzustellen, um eine nahtlose Nutzererfahrung zu gewährleisten. Außerdem wurde eine eigene Abteilung für Barrierefreiheit und Inklusion gegründet, einschließlich eines eigenen Research Teams natürlich!
Die wirtschaftlichen Vorteile von Usability-Tests mit Menschen mit Behinderung
Aber Accessibility Research ist mehr als nur eine Frage der Ethik und Organisation. Es bietet deinem Unternehmen auch konkrete wirtschaftliche Vorteile:
Erschließung neuer Zielgruppen
Menschen mit Behinderungen stellen eine bedeutende und oft übersehene Zielgruppe dar. Indem du deine Produkte und Dienstleistungen barrierefrei und benutzerfreundlich gestaltest, erreichst du ein breiteres Publikum und steigerst deinen potenziellen Kundenstamm.

Verbesserung der Kundenzufriedenheit und -bindung
Barrierefreie Produkte sind oft benutzerfreundlicher für alle. Eine positive Nutzererfahrung führt zu zufriedeneren Kunden, die eher wiederkommen und dein Unternehmen oder Produkt weiterempfehlen.
Stärkung von Marke und Image
Ein Engagement für Barrierefreiheit zeigt, dass dein Unternehmen soziale Verantwortung übernimmt und die Bedürfnisse aller Menschen ernst nimmt. Das stärkt deine Marke, verbessert dein Image und schafft Vertrauen bei Kunden und Partnern.
Innovation und Wettbewerbsvorteile
Accessibility Research kann zu neuen Ideen und innovativen Lösungen führen, die über die reine Barrierefreiheit hinausgehen. Dies kann dir einen Wettbewerbsvorteil verschaffen und dein Unternehmen als Vorreiter positionieren.
Meine oben erwähnten Nutzertests für den Online-Reiseanbieter brachten zum Beispiel:
Probleme in der App zum Vorschein, die auch sehenden Nutzern die Nutzung erschwerten (unter anderem überfrachtetes Layout, inkonsistente Informationen). Durch die Behebung dieser Probleme konnte der Online-Reiseanbieter die Nutzerfreundlichkeit seiner Plattform insgesamt verbessern und die Kundenzufriedenheit steigern.
Inspiriert von unseren Erkenntnissen wurden außerdem Filteroptionen integriert, mit denen Nutzer*innen Unterkünfte nach bestimmten Barrierefreiheitsmerkmalen selektieren können (zum Beispiel: rollstuhlgerechte Zimmer, barrierefreie Duschen, visuelle Alarme). Damit konnte sich der Anbieter als innovativ und kundenorientiert positionieren und legte gleichzeitig den Grundstein zur Gewinnung neuer Kundengruppen.
Wie bringe ich Usability-Tests mit Menschen mit Behinderung in mein Projekt?
Die kurze Antwort auf diese Frage lautet: So früh wie möglich.
Anstatt fertige Designs oder Prototypen erst im Nachhinein auf Barrierefreiheit zu prüfen, solltest du die speziellen Bedürfnisse deiner Nutzer*innen mit Behinderungen von Anfang an in deine Designentscheidungen einbeziehen. Das hilft dir gleichzeitig, kostspielige Fehlentwicklungen zu vermeiden.
Konkret bedeutet das:
Ziehe Menschen mit Behinderung von Beginn an mit ein
Am besten beziehst du Menschen mit Behinderungen schon ein, bevor du mit der eigentlichen Gestaltung beginnst. Du kannst sie zum Beispiel zu ihren bisherigen Erfahrungen mit eurem Produkt befragen, oder zu Wettbewerbsangeboten. Auch wenn es um ein neues Produkt oder neue Features geht, kann der Input von Personen mit Behinderungen dich auf ganz neue Ideen bringen!
Klar ist, dass sich ein einfacher Low-Fidelity-Prototyp noch nicht sinnvoll mit einem Screenreader testen lässt, da die Interaktion fehlt. Doch andere Aspekte lassen sich auch in frühen Phasen sehr wohl prüfen: Kontraste und Schriftgrößen, Wordings, Sprache und Kontexte. Auch die Auswahl und Reihenfolge von Inhalten, Funktionen und Menüpunkten etc. sind bereits in frühen Konzepten oder statischen Entwürfen bewertbar.

Du musst nicht immer eine komplette Webseite testen:
Beginne mit einzelnen Teilbereichen oder Komponenten. So kannst du beispielsweise ein neues Designsystem oder ein bestimmtes Formularfeld auf Barrierefreiheit prüfen, bevor du es übergreifend einsetzt.
Führe lieber iterativ mehrere kleine Studien während des Entwicklungsprozesses durch als eine große Untersuchung am Ende. Kleine, schnelle Tests mit 2–3 Teilnehmer*innen pro Benutzergruppe (zum Beispiel blinde Screenreader-Nutzer*innen) können oft schon wertvolle Erkenntnisse liefern.
In der nächsten Runde kannst du dich dann auf 2–3 Teilnehmer*innen aus einer anderen Benutzergruppe mit anderen assistiven Technologien konzentrieren – oder nochmal 2-3 Screenreader-Nutzer*innen zum Test einladen und überprüfen, ob deine Optimierungen erfolgreich waren.

Teste mit unterschiedlichen Usern
Vergiss nicht, dass es sehr viele unterschiedliche Beeinträchtigungen gibt. Auch Menschen mit Sehbehinderungen, motorischen Einschränkungen oder kognitiven Beeinträchtigungen haben spezifische Bedürfnisse. Achte darauf, dass deine Stichprobe eine gewisse Vielfalt der Beeinträchtigungen repräsentiert, damit du die unterschiedlichen Bedürfnisse und Herausforderungen der Nutzer*innen verstehen kannst.

Und was, wenn das Produkt schon existiert?
In der Realität starten viele Projekte nicht bei null. Oft gibt es bereits eine „fertige“ App oder Website, die nun „im Nachhinein“ barrierefrei gemacht werden soll. In solchen Fällen gilt: Bevor du echte Nutzer*innen mit Behinderungen zum Test einlädst, ist es sinnvoll, einen groben Konformitätstest vorzuschalten.
Warum? Weil es wenig bringt, wenn Screenreader-Nutzer*innen schon auf der Startseite nicht weiterkommen oder die Tastaturnavigation komplett ausfällt. Ein Basistest – zum Beispiel mit Fokus auf Fokusführung, Screenreader-Kompatibilität und elementaren Barrierefreiheitskriterien – hilft dir, die größten Blocker im Vorfeld zu identifizieren und zu beheben.

Das heißt nicht, dass du das System „perfekt“ machen musst, bevor du Nutzerforschung betreibst. Ganz im Gegenteil: Nutzerfeedback ist in jeder Phase wertvoll! Aber ein gewisser Mindeststandard an Zugänglichkeit sorgt dafür, dass die Tests überhaupt sinnvoll durchgeführt werden können – und du nicht nur Frust erzeugst.
Einzige Ausnahme: Du willst ganz bewusst demonstrieren, wie gravierend die Barrieren sind – zum Beispiel, um Management und Stakeholder zu überzeugen. In dem Fall kann es sogar hilfreich sein, den ungeschönten Ist-Zustand live durch Betroffene erlebbar zu machen. Aber wenn das Commitment für Barrierefreiheit bereits da ist und du auf Optimierungskurs bist, dann ist der pragmatische Weg: erst die größten Hürden aus dem Weg räumen – dann testen.
Testen mit Menschen mit Behinderungen – so gelingt’s?
Zugegeben, die Suche nach passenden Testpersonen für Accessibility Research kann eine Herausforderung sein. Sie erfordert Zeit und Sorgfalt. Eine gute Anlaufstelle, um mit Menschen mit Behinderungen zu arbeiten, ist zum Beispiel die Stiftung Pfennigparade.

Oder probiere es über diese Wege:
- Nutze dein eigenes Netzwerk
- Frage bei Behindertenorganisationen oder Selbsthilfegruppen nach
- Recherchiere nach spezialisierten Online-Plattformen
- Wende dich an mich!
Für welchen Weg du dich auch entscheidest:
- Plane auf jeden Fall ausreichend Zeit ein (für Rekrutierung, Technik-Pretests und Troubleshooting)
- Setze dich im Vorfeld mit assistiven Technologien auseinander
- Denke daran, deine Testpersonen angemessen zu belohnen
- Biete ihnen eine barrierefreie Umgebung und begegne ihnen auf Augenhöhe
Fazit zu Usability-Tests mit Menschen mit Behinderung
Checklisten und Audits sind wichtig – aber sie sind nur der Anfang. Wer Barrierefreiheit wirklich ernst nimmt, kommt um Nutzerforschung nicht herum.
Accessibility Research zeigt uns, was Menschen mit Behinderungen wirklich brauchen. Sie sorgt dafür, dass Barrierefreiheit nicht bei formaler Compliance stehen bleibt, sondern in unseren Produkten und Services lebendig wird.
Wenn du Accessibility Research in deinem Unternehmen etablieren willst, fang einfach an – mit ersten Nutzertests und der Bereitschaft, aus den Erfahrungen der Nutzer*innen zu lernen. Du wirst sehen: Schon kleine Tests können oft wertvolle Erkenntnisse liefern und große Wirkung haben.
Und das Beste daran: Wenn wir uns auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen fokussieren, entdecken wir oft neue Wege, unsere Produkte und Dienstleistungen zu verbessern.
Damit führt Accessibility Research nicht nur zu einer besseren Usability für Menschen mit Behinderungen, sondern für alle!