Wie viele Webseiten sind tatsächlich barrierefrei?

Veröffentlicht am 8. November 2023
Autor*in: Sinem Straughan
Text auf Bild: Die harten Zahlen und Fakten!

Mal ehrlich: Was würdest du ohne Internet machen? Wie würdest du zum Beispiel ganz schnell herausfinden, welcher Arzt in der Nähe Sprechstunde hat? Oder dich auf einen neuen Job bewerben? Würdest du dich - wenn es Flug- und Zugtickets nur noch online gäbe - zu Hause einschließen, weil die Welt dich ausschließt?

So geht es Millionen von Menschen mit Behinderung weltweit, die auf schwer zugängliche Webseiten und Apps stoßen. Barrierefreiheit im Internet ist also genauso wichtig wie in der physischen Welt. Denn es gibt viele Bereiche, die nur noch online stattfinden. Unter anderem Supermarkt-Prospekte, die aus ökologischen Gründen nur digital vorliegen. Was für die einen nachhaltig und zukunftsweisend ist, ist für die anderen eine weitere Hürde im Alltag.

Ein Beispiel ist Rewe: Nach 80 Jahren hat der Supermarkt-Riese alle Papier-Prospekte und Handzettel auf Digital umgestellt. Klingt super und spart immerhin 73.000 Tonnen Papier und 70.000 Tonnen CO₂ pro Jahr ein.

Zwei Mülltonnen voll mit Rewe-Prospekten

Zur Bildquelle im Rewe-Mediacenter

Aber – und leider gibt es ein Aber: Damit hat Rewe Menschen mit Beeinträchtigungen nun eine wichtige Möglichkeit genommen, sich über wichtige Aktionen im Geschäft zu informieren. Abgesehen von vielen älteren Menschen, die mit Apps und Newslettern nicht zurechtkommen, betrifft es vor allem diejenigen, die ohnehin schon täglich auf Barrieren im Internet stoßen. Das Beispiel zeigt, dass man manchmal tatsächlich Kompromisse eingehen muss – auch wenn es zulasten der Nachhaltigkeit ist.

Indem du deine Webangebote barrierefrei gestaltest, ermöglichst du allen Menschen, unabhängig von ihren körperlichen oder geistigen Fähigkeiten, auf Online-Informationen und -Dienste zuzugreifen. Wichtig ist aber: Webseiten können nie zu 100 % barrierefrei sein. Man kann nach WCAG AA als barrierefrei gelten, dennoch kann die Seite für manche Leute immer noch Barrieren haben. Sollte man daher gleich aufgeben? Nein. Man kann sich aber annähern und immer besser werden. In diesem Artikel schauen wir uns mal an, wie der Status quo ist und wie viele Websites tatsächlich barrierefrei sind in verschiedenen Ländern. Hier geht es übrigens zu unserer süßen Darstellung der WCAG-Kriterien.

Wie viele Webseiten sind tatsächlich barrierefrei?

Digitale Barrierefreiheit in den USA

98 % der US-amerikanischen Webseiten sind für Menschen mit Behinderung oder anderen speziellen Bedürfnissen nicht zugänglich. Das sagt uns der Jahresbericht 2020 zur Barrierefreiheit im Internet von der accessiBe-Inititiative, die mehr als 10 Millionen Webseiten auf ihre Übereinstimmung mit den Richtlinien untersucht hat. Das bedeutet, dass Menschen mit Behinderung oder Beeinträchtigung in den USA nur auf 2 % des Internets zugreifen können! Hier geht es zum Jahresbericht 2020 von accessiBe.

Die meisten Webseiten waren 2020 weit entfernt von Barrierefreiheit – und der Zustand hat sich seit 2019 sogar ein wenig verschlechtert.

Zur Quelle von Statista

Folgende WCAG-Fehler wurden dabei benannt:

  • schwacher Textkontrast
  • fehlender Alt-Text
  • leere oder fehlerhafte  Links
  • fehlende Steuerelemente
  • fehlende Schaltflächen
  • fehlende Dokumentensprache bei PDFs

2023 hat WebAIM eine neue Studie herausgebracht, bereits zum fünften Mal in Folge. Dazu wurden die Top 1 Million-Websites hauptsächlich mit dem Wave-Accessibility-Tool getestet. Die Studie räumt selbst ein, dass es nicht bedeute, eine Webseite sei barrierefrei, wenn das Tool keine Fehler anzeigt. Die Ergebnisse sind schon ein wenig erschütternd: Rund die Hälfte der Websites hat Fehler in puncto Barrierefreiheit – mit durchschnittlich 50 Fehlern pro aufgerufener Seite! Hier kommst du zur WebAIM-Studie und hier zum Wave-Accessibility-Tool.

96,3 % aller Startseiten waren fehlerhaft. Im Vergleich zum Vorjahr gab es nur eine minimale Verbesserung von 0,5 %. Also bedeutet das: Menschen mit Beeinträchtigungen erleben auf fast allen Startseiten Hürden im Zugang zur ganzen Website.

Kritik an der WebAim-Studie.

Ein sehr informativer Blog ist übrigens der von Domingos de Oliveira. Er bietet seit 2010 Trainings, Prüfungen und Beratung zum Thema Digitale Barrierefreiheit an. Domingos kritisiert die WebAim-Studie auf seinem Blog aus folgenden Gründen:

  • Die gefundenen Fehler würden seiner Meinung nach nicht komplett zu einer eingeschränkten Nutzbarkeit durch behinderte Menschen führen. Warum? Eine fehlende Login-Möglichkeit oder eine unzugängliche Cookie-Meldung würde nicht gleich dazu führen, dass die gesamte Website für alle Menschen mit Einschränkungen nicht zugänglich ist. 
  • Der Test sei nur eine Momentaufnahme und Fehler könnten schon eine Minute nach dem Testergebnis behoben worden sein. Oder eben neue dazukommen. (Wobei zugegebenermaßen jede Studie nur eine Momentaufnahme abbilden kann – Genau das Gleiche gilt auch für Zertifizierungen. Wir behaupten sogar, dass eine Zertifizierung auf digitale Barrierefreiheit keinen Sinn macht, weil du eben genau nach einer Minute wieder nicht barrierefrei sein kannst: Hier erfährst du mehr zum Thema Zertifizierung.)
  • Wenn eine Studie behauptet, fast 100 % der Anbieter erfüllten die Kriterien nicht – dann würde dies bedeuten, die Kriterien sind nicht oder nur schwer erfüllbar. (Hier stimmen wir dem Autor zu – absolute Konformität ist schwer einzuhalten, tatsächlich ist Barrierefreiheit nie zu 100 % gegeben. Die strenge Auslegung der Konformität ist wirklich mit dafür verantwortlich, dass Websites nur noch teilweise als vereinbar gelten. Dafür braucht es nur einen einzelnen Fehler auf der Unterseite.
  • Automatisierte Tools seien nur begrenzt aussagekräftig. Eindeutig richtig: Die Tools können dir Schwachstellen aufzeigen, was aber nicht heißt, dass es die Einzigen sind. Umgekehrt bedeutet es nicht, deine Website ist tatsächlich barrierefrei, wenn das Tool keine Fehler anzeigt. Hier ist also Vorsicht geboten!

Hier geht es zu Domingos Blog.

Und wie sieht es nun mit der digitalen Barrierefreiheit in Europa aus? Ein kleiner Überblick in Zahlen.

Untersucht wurden nur Websites und App öffentlicher Einrichtungen – der private Sektor war nicht Teil der Erhebung.

Text auf Bild: Die digitale Barrierefreiheit in Europa ist mangelhaft!

Irland

Sosehr wir es uns gewünscht hätten, dass die Inselbewohner uns voraus sind: Auch wenn die Testung stark vereinfacht war, hatten alle untersuchten Websites Fehler in der Barrierefreiheit. Sogar auf Websites, auf denen man sich augenscheinlich Mühe gab, barrierefrei zu sein.

In Zahlen: 83,5 % der untersuchten 40.373 Seiten waren nicht barrierefrei. Gab es eine Barrierefreiheitserklärung, war sogar diese meist unzulänglich. Sprich: Sie gab einem nicht an, wo man überhaupt eine Beschwerde einreichen oder Feedback abgeben konnte. 

Belgien 

Immerhin: Am Ende der ersten Untersuchungsperiode wurden rund 10 % mehr Barrierefreiheitserklärungen auf die untersuchten Websites gestellt. 50 % waren teilweise barrierefrei. Doch was sagt uns das? 50 % waren nicht barrierefrei und der Rest nur ein bisschen? Hm.

Österreich

Zumindest eines muss man unseren Nachbarn lassen: Sie sind das EINZIGE EU-Land, das den Bericht auch in einfacher Sprache zur Verfügung stellt. Von Oktober 2020 bis September 2021 testeten sie 281 Websites und Apps. Zudem wurden Menschen mit Behinderung, wie zum Beispiel Blinde, mit in das Monitoring einbezogen.

Die Ergebnisse: Keine der überprüften Websites erfüllte alle Kriterien. (Überrascht nicht mehr, oder?) Alle Websites erfüllten mindestens 17 Kriterien und maximal 35 Kriterien nicht. Überprüft wurden 49 WCAG-Kriterien nach den Prinzipien „wahrnehmbar“, „verständlich“, „bedienbar“ und „robust“.

Der Bericht war übrigens der Einzige, der sehr übersichtlich und informativ war. Und: Es gibt schon einen Zwischenbericht aus dem Jahr 2022: 45 % der öffentlichen Stellen haben immer noch keine Barrierefreiheitserklärung! Die Ergebnisse im Jahr 2022 sind vergleichbar mit den Ergebnissen aus 2021: Es wurden immer noch bei vier der überprüften Kriterien Probleme auf den Websites gefunden. Es hat sich also nichts geändert.

UK

Und was machen die Briten? Auf fast allen überprüften Websites gab es Barrierefreiheitsprobleme!

Aber: Die Websitebetreiber wurden darauf aufmerksam gemacht. Dazu gab man ihnen 12 Wochen Zeit, um die Probleme zu beheben.  Nach Ablauf der Zeit hatten immerhin 59 % die Probleme behoben oder bestätigt, dies in kürzester Zeit nachzuholen. Geht doch!

Wie macht sich Deutschland im Vergleich? 

Mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, das am 22. Juli 2021 verkündet wurde, ist die entsprechende EU-Richtlinie über die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen umgesetzt worden. (Mehr zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz.)

Die EU-Mitgliedsstaaten überwachen dazu periodisch, inwieweit Webseiten und mobile Anwendungen öffentlicher Einrichtungen den festgelegten Anforderungen genügen. Zum ersten Mal wurde in Deutschland 2021 ein Report von der Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik vorgelegt – und die Ergebnisse waren ernüchternd. Keine einzige der rund 1900 geprüften Webseiten erfüllte die Kriterien. Hier ein Auszug:

  • Nur 34,9 % der Organisationen haben überhaupt eine Erklärung auf der Webseite, dass sie barrierefrei sind.
  • Nur 18,5 % hinterlegten Alternativtexte für relevante Bilder und andere Nicht-Text-Inhalte.
  • Eine technische Prüfung von PDFs auf Barrierefreiheit bestanden nur 13 %.
  • Leichte Sprache wendeten nur 24,7 % an.

Da ist noch viel Luft nach oben – insbesondere, weil diese Erhebung den privaten Sektor komplett außer Acht lässt! Aktuelle Daten zum Stand heute konnten wir leider nicht finden. Zur Seite des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik.

Übrigens: Wenn du wissen willst, wie barrierefrei das Land der Dirndl und Lederhosen ist – im folgenden Artikel beschreiben wir, wie gut Bayern abschneidet. Dafür haben wir 317 bayerische Städte und deren Websites unter die Lupe genommen. Spoiler: Es sieht nicht gut aus! Zum Artikel über die digitale Barrierefreiheit von Bayern.

Barrierefreiheit bei Online-Shops

Und weil es gerade so schön ist, schauen wir uns noch kurz an, wie barrierefrei die Online-Shops in Deutschland schon sind. Denn nicht vergessen: Ab 2025 sind privatwirtschaftliche Anbieter dazu verpflichtet, digitale Produkte barrierefrei anzubieten.

Laut einer Studie der Aktion Mensch nutzen Menschen mit Beeinträchtigungen Online-Shops häufiger als Menschen ohne, weil sie weniger mobil sind und Wege vermeiden möchten. Deswegen ist es umso wichtiger, dass der digitale Handel auch auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist.

Aus den 78 WCAG-Kriterien zog die Initiative aus Aktion Mensch, BITV-Consult und Pfennigparade acht heran, die für Menschen mit körperlichen und Sinnes-Behinderungen wichtig sind. Die sieben Testexperten waren Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen:  starke Seheinschränkun­gen, Bewegungseinschränkungen (Spastik, Läh­mung) sowie erworbene Hirnschädigungen. Je nach Einschränkungen nutzen die Testpersonen Eingabegeräte, wie Spracheingabe, (Spezial-)Maus und (Spezial-)Tastatur, Joystick, Augensteuerung. Auch die Ausgabegeräte waren an die jeweilige Person angepasst und reichten von Bild­schirmen und Voiceover bis hin zu Screenreadern. 

Die Ergebnisse der Erhebung:

  • Tastaturbedienbarkeit: Die Mehrzahl der untersuchten Websites konnte dieses Kriterium nicht erfüllen. Kein sichtbarer Tastaturfokus (Wo bin ich gerade?) und falsche oder unlogische Tab-Reihenfolgen machen es Menschen schwerer, durch die Website zu navigieren.
  • Beschriftungen, Labels und Anweisungen: Alle 17 Testseiten bestanden das Kriterium, denn sie stellten sinnvolle Beschriftungen in den Formularfeldern zur Verfügung. Yay!
  • Textgröße ändern, ohne Informationsverlust: 15 von 17 Websites erfüllten das Kriterium! 
  • Textabstand und Textumbruch: Fast alle ermöglichten den Zeilenumbruch bei Veränderung des Textabstandes. Auch wenn die Texte dadurch leicht abgeschnitten wurden, waren sie immer noch gut lesbar.
  • Untertitel für multimediale Inhalte: Keiner der Websites hatte Videos, in denen gesprochen wurde. Dennoch wäre es gut, eine Audiobeschreibung zur Verfügung zu stellen, damit sehbeeinträchtigte Menschen verstehen, worum es darin geht.
  • Pausieren, beenden und ausblenden: Acht Websites hatten bewegliche Elemente. Keine davon konnte man pausieren, beenden oder ausblenden.
  • Überschriften und Beschriftungen: Verständlich waren leider nur die wenigsten Überschriften. Für Screenreader ist es nämlich nicht sehr logisch, wenn Überschriften “Hallihallo Sommer”, “Primär” oder “Allgemein” lauten. Einzig Ikea konnte hier – wie bei allen anderen Kriterien auch – super punkten.
  • Name, Rolle und Wert: Auf 12 von 17 Seiten konnten die Testpersonen erfolgreich durch den Kaufprozess navigieren, weil die Bedienelemente korrekt erkannt wurden. Aber auch hier gab es Probleme bei der Beschriftung von Bedienelementen und Auswahlmöglichkeiten. Beispiel: Bei Zahlenfeldern sollte das Feld auch als solches gekennzeichnet sein. Ist sie als Textfeld ausgewiesen, liest der Screenreader nämlich 199, statt 1,99 Euro vor.

Insgesamt kann sich das Ergebnis schon eher sehen lassen als die Monitoring-Berichte öffentlicher Websites. Die Kriterien decken zwar nur einen kleinen Teil ab, dennoch handelt es sich aus Sicht der Initiative um die relevantesten für den Abbau von Barrieren im Netz.

Fazit

Barrierefreie Websites und Apps sind nicht nur ein gesetzliches Muss, sondern auch ein Zeichen von Inklusivität und Empathie. Es kann natürlich auch sein, dass sich zwischen 2021 und Stand heute schon einiges getan hat bei den öffentlichen Stellen – ein Update wäre wünschenswert!

Eine weitere Herausforderung bei diesem Thema ist natürlich auch, dass sich Technologien ständig weiterentwickeln und man am Ball bleiben muss. Mit unseren Workshops rund um das Thema digitale Barrierefreiheit helfen wir gerne, dass dein Team auf dem neuesten Stand bleibt. So können alle Verantwortlichen die neuesten Prinzipien der digitalen Barrierefreiheit in ihrer täglichen Arbeit berücksichtigen. Zu unseren Workshops rund um das Thema digitale Barrierefreiheit.

Ein Profilbild von Sinem Straughan. Sinem hat lange braune Haare und braune Augen, sie lächelt in die Kamera.

Über Sinem Straughan

Hi, ich bin Sinem, SEO-Texterin und Kinderbuchautorin.

Meine Mission ist es, Unternehmen mit Wort und Tat zu unterstützen, die zu mehr Diversität und Inklusion beitragen!

Auf dem Blog von Gehirngerecht Digital schreibe ich rund um das Thema digitale Barrierefreiheit und helfe mit, das Internet zugänglich für alle zu machen.

Du hast noch weitere Fragen?